Eschers EM-Tagebuch, Tag 11: Tom Bartels und das dänische Märchen

Herzlich Willkommen zu meinem EM-Tagebuch! Heute packe ich ein Thema an, das ich eigentlich vermeiden wollte. Ich äußere mich zu Tom Bartels Kommentar des Dänemark-Spiels und stelle die Frage: Wie emotional involviert sollte ein Kommentator sein? Außerdem lobe ich die taktische Flexibilität der Österreicher.

Wie emotional darf ein Kommentator sein?

Eigentlich beschwere ich mich selten öffentlich über Kommentatoren. Vor zehn Jahren war das noch anders. Damals habe ich mich regelmäßig auf Twitter aufgeregt über die vermeintliche Unfähigkeit der Berichterstatter. Ganze Welt- und Europameisterschaften habe ich damit verschwendet, auf Twitter Kommentatoren-Wutbürger zu spielen.

Mittlerweile vermeide ich es, negativ über Kommentatoren zu twittern. Mit dem Alter wird man milder. Ich habe mittlerweile genug Einblicke erhalten in das Arbeitsleben von Kommentatoren, um zu wissen, wie anspruchsvoll, schwierig und vor allem undankbar der Job ist. Außerdem bemängele ich ständig die toxische Atmosphäre auf Twitter, bei der Menschen für kleinste Verfehlungen beleidigt werden. Dazu möchte ich nicht (mehr) beitragen.

Gestern hat es mich dennoch übermannt. Nach dem Spiel zwischen Dänemark und Russland habe ich mich auf Twitter über Kommentator Tom Bartels ausgelassen. Mein Vorwurf: Er habe das Spiel zugunsten der Dänen kommentiert. Ein Vorwurf, den er selbst wahrscheinlich nicht einmal abstreiten würde. Die Geschichte des dänischen Achtelfinaleinzug rührt das Herz derart, dass wohl niemand neutral bleiben konnte. Auch ich habe mich gefreut über den dänischen 4:1-Sieg, der sich irgendwie anfühlte wie eine späte Rache an der Uefa.

Mir jedoch versprühte Bartels Kommentar eine Spur zu viel Dänemark-Kitsch. Bereits vor dem Anpfiff kannte er kein anderes Thema. Die Russen kamen immer nur als Gegner Dänemarks vor, nicht als Mannschaft, die selbst um das Achtelfinale kämpft. Über sie erfuhr ich wenig mehr als die Tatsache, dass Trainer Stanislav Cherchesov einst unter Joachim Löw gespielt hat. Was in seiner Durchgenudeltheit so etwas ist wie das Äquivalent zum Fun Fact darstellt, dass Chicharito übersetzt „kleine Erbse“ bedeutet.

Vermutlich aber liegt Bartels mit seiner Kommentierung wesentlich näher am Zeitgeist als ich. Auf Twitter haben mich gleich mehrere Menschen darauf hingewiesen, dass sie sich gar keinen emotionsfreien, neutralen Kommentar wünschen. Der Kommentator soll das Spiel heute nicht nur begleiten. Er soll mitfiebern, antreiben, emotionalisieren. Bartels dürfte nur das wiedergegeben haben, was die meisten Zuschauenden ohnehin fühlten: dass ein Sieg Dänemarks göttliche Gerechtigkeit darstellt.

Bartels ist mit dieser Art von Kommentar ja nicht allein; er setzt sich auch bei seinen Kolleginnen und Kollegen mehr und mehr durch. Mit meinen 33 Jahren kann ich mich noch daran erinnern, wie diese Art von Kommentar noch vor zehn Jahren verpönt war. 2010 beschäftigte Fußball-Twitter noch die Frage, ob ein Kommentator bei einem Deutschland-Spiel überhaupt für das eigene Land sein dürfe. 2021 wird diese Frage allenfalls noch in Mini-Filterblasen gestellt. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Bartels im Finale schreit: „Mach es!“, als würde er auf der deutschen Ersatzbank und nicht auf der Pressetribüne sitzen.

Das alles kann man furchtbar schrecklich finden. Wenn es nach mir ginge, müsste ein Kommentator nicht mehr tun als in den Siebziger Jahren: ab und an einen Spielernamen nennen, zwischenzeitlich den Zwischenstand erwähnen, und ansonsten über weite Strecken des Spiels schweigen. Das will aber außer Hardcore-Fußball-Freaks wie mir niemand. Der Zeitgeist will mehr Kommentar und er will vor allem mehr Kommentar mit Herz.

Ein Stück weit wären wir damit wieder an jenem Ausgangspunkt angelangt, den ich in meinem ersten Tagebuch-Eintrag zu Eriksen beschrieben habe: der totalen Emotionalisierung des Sports. Unsere Begeisterung für Dänemark rührt ja schlicht daher, dass wir ein klassisches Helden-Narrativ erleben: Von den unfairen großen Mächten kleingehalten, revanchieren sich die Dänen bei der Uefa, indem sie über alle Widerstände hinweg das Achtelfinale erreichen. Es ist eine der ältesten Erzählungen der Menschheitsgeschichte, und natürlich funktioniert sie auch im Fußball. Mit den Dänen zu jubeln, ist zutiefst menschlich.

Grundsätzlich werde ich mit der Über-Narrativisierung des Fußballs aber nicht mehr warm in diesem Leben. Natürlich ist der Fußball immer mehr als nur Fußball; ansonsten wäre er nicht reizvoller als Bahnrad-Fahren oder Synchronschwimmen. Mittlerweile beschleicht mich aber das Gefühl, Fußball muss mehr als nur Fußball sein, immer und zu jeder Zeit. Alles wird in die passende Erzählung gepresst, damit wir auch noch den letzten Tropfen Gefühl aus dem Sport herauskitzeln können. Die Heldengeschichten werden nicht mehr dankend angenommen, sie werden regelrecht herbeigesehnt. So wie Bartels dies beim Dänemark-Spiel tat.

Und nochmal: Das spiegelt die Sicht vieler Menschen auf den Fußball wider, und diese Sicht wird sich auch in den kommenden Jahren weiter durchsetzen. Insofern: alles richtig gemacht, Tom Bartels. Derweil hole ich die Bänder der Weltmeisterschaft 1974 heraus und erfreue mich am (Nicht-)Kommentar.

Österreichs taktische Meisterleistung

Zurück zum Sport. Nicht nur Dänemark hat sich am gestrigen Montag für das Achtelfinale qualifiziert. Auch Österreich gelang der Sprung unter die letzten 16. Erstmals seit 1954 überstanden die Österreicher die Gruppenphase eines großen Turniers. Das ist angesichts der eher leichten Gruppe nicht die größte Überraschung dieser EM.

Überraschend hingegen ist die Tatsache, dass ausgerechnet die Österreicher mit einer erfolgreichen Systemumstellung punkteten. Gestern noch stellte ich fest, dass kaum Trainer es wagen, zwischen den Spielen ihr System zu wechseln. Die Österreicher genießen eigentlich nicht den Ruf einer Nation voller Taktikfüchse. Gegen die Ukraine hat Trainer Franco Foda jedoch alles richtig gemacht.

In den ersten beiden Partien hatten die Österreicher noch auf eine Fünferkette gesetzt. David Alaba kam als zentraler Verteidiger zum Einsatz, was nicht nur in diesem Tagebuch als Diskussionsstoff diente. Gegen die Ukraine stellte Foda auf ein 4-2-3-1-System um. Alaba rückte aus der zentralen Verteidigung auf die linke Seite.

„Endlich!“, dürfte so mancher Österreicher gejubelt haben. Auf der linken Seite könne Alaba schließlich seine offensive Klasse besser einsetzen als in der zentralen Verteidigung. Wie wichtig seine offensiven Vorstöße sind, hatte er nicht zuletzt während der zweiten Halbzeit gegen Nordmazedonien bewiesen. Auch gegen die Ukraine zeigte er offensiv einige sehr gute Vorstöße und bereitete mit einer Ecke ein Tor vor.

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Alabas Versetzung nach links machte aber vor allem aus einem anderen Grund Sinn: So übernahm er die Rolle des Bewachers von Andriy Yarmolenko. Der Ex-Dortmunder hat bisher eine starke EM gespielt. Als Rechtsaußen mimt er häufig den zweiten Stürmer, er verbleibt für Konter meist vorne. Gegen Österreich blieb er wirkungslos: Alaba nahm ihn de facto aus dem Spiel.

Foda gebührt an dieser Stelle ein Lob. Auch ich habe in diesem Tagebuch stets Alabas offensive Stärken hervorgehoben. Foda hat jedoch erkannt, dass Alaba nicht nur offensiv eine Waffe darstellt, sondern auch defensiv sein bester Spieler ist. Gegen die Ukraine schaffte Alaba das Kunststück, defensiv Yarmolenko aus dem Spiel zu nehmen und offensiv die Lücken auszunutzen, die dieser hinter sich ließ.

Aber auch abseits von Alabas Rolle war das österreichische 4-2-3-1 clever gewählt. Im Pressing übten die Österreicher viel mehr Druck aus als zuletzt. Mit einem klassischen Red-Bull-4-2-2-2 zwangen sie die Ukraine zu zahllosen langen Bällen.

Im Spielaufbau funktionierte das System ebenfalls. Die Ukraine erzeugt im Pressing häufig 4-3-1-2-Strukturen durch die hohe Rolle von Yarmolenko. Der zurückfallende Florian Grillitsch schuf mit den zwei Innenverteidigern eine Drei-gegen-Zwei-Überzahl gegen Ukraines Zweier-Sturm. Wenn sich die Ukraine in ein 4-1-4-1 zurückzog, blieb Grillitsch jedoch hoch und überlud den Mittelfeld-Raum. Auch das Einrücken der österreichischen Außenstürmer funktionierte sehr gut. Die Österreicher hatten in der Aufbau- und in der Mittelfeld-Linie stets einen Spieler Überzahl.

Beim 1:0-Erfolg stimmte eigentlich nur eins nicht: die Chancenverwertung. Nicht nur aufgrund der schwachen Torausbeute gehen die Österreicher als klarer Außenseiter ins Achtelfinale mit Italien. Unterschätzen werde ich Fodas Team aber nicht mehr. Ich bin gespannt, was sich das Trainerteam gegen den haushohen Favoriten einfallen lässt.

Kurze Beobachtungen

  • Achter, Zehner, Linksaußen, Rechtsaußen: Konrad Laimer spielt bei dieser Europameisterschaft jede Position im Mittelfeld. Bei RB Leipzig kommt er gerne auch mal als Links- oder Rechtsverteidiger zum Einsatz. Was die Frage aufwirft: Welche Position beherrscht Laimer eigentlich nicht? Ihm gelingt dabei das Kunststück, jede Position gleich zu interpretieren. Selbst wenn er irgendwann als Torhüter zum Einsatz kommen sollte, würde er wahrscheinlich den Gegner im Vollsprint pressen. Man muss den Kerl für seine Einsatzbereitschaft lieben.
  • England ist nicht optimal in das Turnier gestartet. Folglich debattieren die Engländer, ob Trainer Gareth Southgate die richtige Aufstellung wählt. Während hierzulande vor allem die Nichtberücksichtigung Jadon Sanchos Stirnrunzeln hervorruft, fordern viele Engländer den Einsatz von Jack Grealish. Aus neutraler Sicht wäre das eine interessante Wahl, wobei auch der eigentliche Sturm, bestehend aus Raheem Sterling, Harry Kane und Phil Foden, individuell die Klasse der gegnerischen Verteidiger überragt. Eine schwere Entscheidung, müsste man meinen. Nicht für viele Social-Media-Nutzer. Dort wird Southgate wahlweise als „Ente“, „nationale Schande“ oder „Vollidiot“ bezeichnet. Ach ja, herrlich, diese Form von Respekt. Da sind wir wieder beim Ausgangspunkt der toxischen Atmosphäre im Netz.

Leseempfehlungen

Sam Gustafson, Medium: Finding Inverted Full Backs With Data

The Guardian: Lionel Messi remains Argentina’s best hope of glory even in his twilight

Das Titelbild zeigt einen Kommentatoren-Platz im Weserstadion und stammt von Clemens 2014, Lizenz: CC BY-SA 3.0.

6 thoughts on “Eschers EM-Tagebuch, Tag 11: Tom Bartels und das dänische Märchen

  1. Wie recht du zu Bartels hat! V.a. das „herbeisehnen“ und „herbeisehnen müssen“ nervt mich. Schaue öfters Skispringen und kann mir die ARD nicht antun, da sie sehr deutschlandafin kommentiert, da Lobe ich mir Toni Innauer, der freilich auch nicht immer neutral ist, aber verschmitzt und mit viel Sachverstand und Menschlichkeit kommentiert. Allgemein wünsche ich mir mehr Kommentar, aber einordnend, auf das Spiel bezogen und gerne auch die Perspektiven wechseln. Wie man das dann bezeichnen will, keine Ahnung.

  2. Find deine Haltung schon ganz OK. Man muss ja auch gar nicht neutral gegen emotional ausspielen. Das Heldenepos rauszuholen ist halt einfacher, als beiden Seiten emotional beizustehen. Das isses dann, was ich den Bartels‘ dieser Welt vorwerfe; den einfachen Weg zu nehmen, der nix kostet. Ich bin allerdings auch schon leicht irritiert, dass sogar Max langsam in die Richtung kippt.

  3. Die Worte zu Bartels sprechen mir auch aus der Seele – ich denke nur, dass sein Verhalten und dessen Befürwortung Ausdruck eines allgemeinen Wandels im Journalismus ist. Wo früher das Paradigma von Hanns Joachim Friedrichs galt („Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache“), würden die meisten Journalist*innen das heute so nicht mehr unterschreiben – sie wollen sich positionieren, Anteil nehmen, werten und emotionalisieren (und die Leute erwarten das von ihnen). Auch deshalb muss man Sie, lieber Tobias Escher, so loben für Ihre geradezu ostentative Verweigerung von Emotionalität in der Darstellung (gerade bei Bohndesliga ein notwendiges Gegengewicht). Kurz und gut: Bitte bleiben Sie bei Ihrer Art!

  4. „Die Heldengeschichten werden nicht mehr dankend angenommen, sie werden regelrecht herbeigesehnt. So wie Bartels dies beim Dänemark-Spiel tat.“

    Stellt sich die Frage warum. Diese These finde ich viel spannender als die Konsequenz daraus beim Fußballkommentator in Form von Tom Bartels Parteilichkeit.

    Könnte daran liegen, dass gerade im Vereinsfußball die Heldengeschichten und Märchenmeisterschaften wie Kaiserslautern ’98 immer mehr ausbleiben. Selbst im Pokalfinale sieht man immer mindestens einen der drei großen (Bayern, Leipzig, Dortmund). Frankfurt als Pokalsieger war schon das Größte an „Heldengeschichte“ oder auch Außenseitererlebnis, was der Fan des deutschen Fußballs seit Ewigkeiten erlebt hat.

    Dadurch, dass der Vereinsfußball immer stärker von den selben Vereinen beherrscht wird, die zudem auch noch zusehends immer mehr den Bezug zur Fanbasis verlieren, wird der Nationenfußball bei Turnieren direkt noch emotionaler.

    Seltene Ereignisse werden automatisch mehr zelebriert und die Fans sind ausgehungert nach… ja, nach was? Abwechslung? Gerechtigkeit für den Sport statt dem Geld? Einer Backpfeife für UEFA, FIFA und den Kommerz? Schwer zu beantworten.

  5. Sehr guter Kommentar, Bartels (und auch die ganze einseitige Berichterstattung drumherum) ham mich gestern auch etwas genervt.

    Österreich hat auch nach 1954 mal eine Gruppenphase überstanden (Schande von Gijon z.b.), allerdings gab es damals noch eine 2. Gruppenphase und jetzt ist man zum 1. Mal seit ’54 in der KO-Runde.

  6. Ich finde deine Ausführungen zur Emotionalisierung des Fußballs sehr nachvollziehbar, allerdings halte ich sie für schlecht getimed. Ausgerechnet bei der klassischsten und stärksten aller Heldenstories, die sogar Opa Heinz begreift (nichts gegen Opa Heinz, aber er ist nicht mehr der allerhellste), zu fordern weniger zu emotionalisieren, wäre als würde man beim lustigsten film der Geschichte kritisieren es würde zu viel gelacht werden. Und auch der Verweis auf frühere Kommentare ist irreführend. Ja, viele Jahre lang glich der Kommentar eines Fußballspiels dem einer Naturdokumentation, jedoch gibt es genug Beispiele, die zeigen, dass das nicht immer so wahr. Welcher (deutsche) Fußballfan hat nicht die berühmt geworden Worte des Kommentators des WM Finales 1954 im Ohr, wer kann sich nicht an Dennis Bergkamps Tor bei der WM 1998 gegen Argentinien erinnern, welches einen niederländischen Kommentator hörbar in absolute Extase versetzt hat. Fußball und Emotionen haben schon immer zusammengehört, so zu tun als wäre das nicht so, wäre naiv. Und klar der Zwang zum Narrativ hat auch meiner Meinung nach überhand genommen. Jedoch, deswegen zu fordern, dass Kommentatoren, jenes Merkmal vermissen lassen sollten, das ansonsten alle nicht-robotor-fußball fans ausmacht und was so viele erst zum Fußball treibt, ist zu kurz gedacht.

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