EM-Tagebuch, Tag 5: Unterwältigende DFB-Elf

Herzlich Willkommen zu meinem EM-Tagebuch! In unregelmäßigen Abständen möchte ich an dieser Stelle meine Gedanken zur Fußball-Europameisterschaft 2021 teilen. Das kann alles sein, von Einschätzungen zum Thema des Tages über taktische Analysen bis hin zu semiwitzigen popkulturellen Anspielungen. Am heutigen Tag steht das Tagebuch ganz im Zeichen der Partie zwischen Deutschland und Frankreich!

Quo vadis, Deutschland?

„Quo vadis, Deutschland?“ ist so etwas wie die Barbara Schöneberger unter den Textüberschriften: Ihr Einsatz ist minimal kreativ, aber in praktisch jeder Lebenslage möglich. Die Frage, wie es weitergeht, stellt sich ja eigentlich nach jedem Fußballspiel. Nach dem 0:1 gegen Frankreich hat die Frage aber eine tiefergehende Bedeutung. Denn auch nach dem Auftaktspiel ist man nicht viel schlauer, was die deutschen Chancen bei dieser EM angeht.

Denn tot ist diese Mannschaft keineswegs. Selbst Toni Kroos hat gegrätscht, als hätte er einen Körpertausch mit Jürgen Köhler vollzogen. Die besten Phasen hatte das deutsche Team, wenn sie nach vorne verteidigen konnten. Hier funktionierte das 3-4-3-System: Zwei Stürmer liefen die gegnerischen Innenverteidiger an, Havertz bewachte Kante, auch die Außenverteidiger rückten weit vor.

Überhaupt war die deutsche Defensive an diesem Abend nicht das Problem. Die französischen Konter hatte die DFB-Elf auch nach dem 0:1 im Griff. Erst als sie zwanzig Minuten vor Schluss offensiver auftraten, schlug die Stunde von Kylian Mbappe. Doch während die Franzosen gleich zwei Abseitstore erzielten, hingen die deutschen Stürmer zumeist in der Luft.

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Womit wir beim eigentlichen Problem sind: Vor drei Jahren scheiterte das deutsche Team bei der WM daran, keine Torchancen aus dem Ballbesitz zu erspielen gegen Mexiko, Schweden und Südkorea. Weltmeister Frankreich ist sicherlich eine Liga höher anzusiedeln als die WM-Gegner. Doch selbst gegen diesen Gegner sind eineinhalb Chancen aus 62% Ballbesitz viel zu wenig.

Mich stimmen vor allem zwei Punkte nachdenklich. Erstens: die großen Abstände zwischen Mittelfeld und Angriff. Toni Kroos tat das, was ein Toni Kroos immer tut, egal ob es Sinn ergibt (wie zumeist bei Real Madrid) oder keinen Sinn ergibt (wie zumeist in der DFB-Elf): Er ließ sich in den halblinken Raum fallen und gestaltete das Spiel aus der Tiefe. Ilkay Gündogan ließ sich von Kroos anstecken und turnte ebenfalls vor der Abwehr rum. Was die Frage aufwirft, wozu man eigentlich Hummels reaktiviert hat. Denn wenn Dortmunds Kapitän eins nicht braucht, dann tieffallende Sechser, die ihm beim Spielaufbau helfen. Das kann er schon ganz gut selbst. Rüdiger übrigens genauso. Die DFB-Elf mag mit der tief agierenden Doppelsechs gut abgesichert gewesen sein gegen Konter. Nach vorne ging aber herzlich wenig.

Zweitens: Deutschlands Spiel über die Flügel. Das wäre, in der Theorie, ein Weg gewesen, das teilweise arg enge 4-3-3 der Franzosen zu knacken. Robin Gosens kam auf links immer wieder an den Ball. Aber Gosens ist ein Angreifer für das Ende eines Spielzugs, nicht für dessen Anfang. So kam es, dass er häufig in isolierten Aktionen den Ball bekam – und dann schnell wieder verlor. Nicht zufällig hatte er die geringste Passgenauigkeit aller deutschen Spieler vorzuweisen.

Das soll aber keineswegs Kritik an Gosens sein. Dem deutschen Spiel fehlten die Mechanismen, um die Angriffe über die Flügel zu Ende zu spielen. Letztlich endete es stets damit, dass ein Spieler am Flügel isoliert gegen drei Franzosen stand. Überladungen der Flügel? Dynamische Überzahlsituationen? Ein Außenvereidiger, der Tempo aufnimmt? Kombinationen vom Flügel ins Zentrum? Fehlanzeige. Flanken sind derweil nicht die beste Idee, wenn dein bester Strafraumstürmer Thomas Müller heißt.

Meine bescheidene Meinung nach dem ersten Spiel: Deutschland benötigt eigentlich eine andere Doppelsechs. So sehr ich Kroos und Gündogan schätze, aber weder harmonieren sie im Spielaufbau noch rücken sie angemessen nach, weder auf die Flügel noch ins letzte Drittel. Wenn man schon mit einer Dreierkette aufbaut, benötigt man nicht auch noch zwei Passmaschinen in tiefer Position davor. Auch wenn ich „Was wäre gewesen, wenn…“-Szenarien eigentlich nicht ausstehen kann: Mit Joshua Kimmich und Leon Goretzka auf der Doppelsechs hätten wir ein anderes Spiel erlebt.

Löw wird sich dieser Debatte in den kommenden Tagen stellen müssen. Auch wenn sie wahrscheinlich reduziert wird auf die Forderung, Kimmich im Zentrum aufzustellen. Ich bin auf jeden Fall bereit, sie bis zum Anpfiff des Portugal-Spiels zu führen, falls jemand einen Sofa-Experten zu dem Thema sucht.

Nicht kämpfen, sondern dribbeln!

Man ist als Autor ja dankbar für jeden Kommentar, den man erhält. Einerseits weiß man dann, dass man hier keine digitalen Selbstgespräche führt, sondern dass tatsächlich jemand den Schmarr’n liest. Andererseits fällt bei den Kommentatoren manchmal ein Thema ab, über das man schreiben kann. In die dazu gehörige Kategorie „Zuschauerfragen“ fällt dieser Tweet:

Das kann ich gerne tun, Thomas. Zunächst einmal: Viele meiner Twitter-Einschätzungen halten keiner analytischen Überprüfung stand. Sie entspringen einem Bauchgefühl. Daher kann ich zunächst einmal nicht mehr als anekdotische Beweise anführen: die Angriffe der deutschen Mannschaft, in denen Müller den Ball in den Fuß eines Gegenspielers spielte; die langen Verlagerungen der Franzosen, die statt in den Fuß des Außenspielers ins Aus gingen; die Aktion, in der ein Franzose sich den Ball ohne Gegnereinwirkung zehn Meter zu weit vorlegte (und Mbappe sich die Kugel gegen Hummels trotzdem noch erlief).

Ganz so Bauch-getrieben soll es in diesem Tagebuch aber nicht zugehen, und so habe ich noch eine schöne Statistik gefunden, die mein Bauchgefühl stützt. Und zwar die Dribbling-Statistik. Diese weist aus, wie häufig Angreifer mit den Ball am Fuß mindestens einen Verteidiger umkurvt haben. Dazu zählen also nicht nur die Klischee-mäßigen Dribblings eines Außenspielers, der zwei oder mehr Verteidiger austänzelt. Auch ein Sechser, der sich mit einer Drehung seinem Gegenspieler entledigt, steigert seinen „erfolgreiche Dribblings“-Wert um eins. Ex-Bayer Thiago etwa ist in der Bundesliga einer der statistisch erfolgreichsten Dribbler der vergangenen Jahre. Er wagte ständig diese kurzen Dribblings.

Vom Spiel Frankreich gegen Deutschland erwartet man, dass es viele erfolgreiche Dribblings gibt. Immerhin sind einige der pressingresistentesten Spieler der Welt auf dem Rasen: Griezmann, Kante, Pogba auf der einen, Gündogan, Kroos, Gnabry auf der anderen Seite. Doch statistisch betrachtet bot die Partie zwischen Deutschland und Frankreich die drittwenigsten erfolgreichen Dribblings der gesamten EM, nämlich: elf. Nur zwischen Wales und der Schweiz (zehn) sowie Spanien und Schweden (neun) gab es weniger erfolgreiche Dribblings zu bestaunen. (Das Spiel Dänemark gegen Finnland klammere ich aus naheliegenden Gründen aus.)

Zu dieser Statistik trug maßgeblich die deutsche Mannschaft bei. Ihr Wert: ein (in Zahlen: 1) erfolgreiches Dribbling in neunzig Minuten. Die Franzosen kamen bei 16 Versuchen immerhin auf zehn erfolgreiche Dribblings. Dass die Deutschen am tiefen Block der Franzosen kaum vorbeikamen, lag auch an den fehlenden Stärken im Eins-gegen-Eins. Klar, sich an Frankreichs Verteidigern vorbeizumogeln, ist nicht das leichteste Unterfangen. Aber etwas mehr sollte schon herausspringen, gerade wenn man nicht möchte, dass irgendwelche dahergelaufenen Sofa-Experten das technische Niveau der Partie kritisieren.

Kurze Beobachtungen

  • Sollte es eine zweite Staffel des „Phrasendrescher“-Podcasts geben, sollten wir uns auf jeden Fall den Begriff „Stückwerk“ ansehen. Ich benutze diese Phrase selbst recht häufig, ohne genau zu wissen, was ich damit eigentlich sagen will. Gefühlt fungiert sie als Platzhalter, wenn man merkt, dass die Offensive einer Mannschaft nicht funktioniert – man aber nicht genau festmachen kann, woran das lag. Heute taucht der Begriff jedenfalls in jedem Bericht zur deutschen Niederlage auf.
  • Groß war auf Twitter die Aufregung nach der Einwechslung von Kevin Volland. Wie kann Joachim Löw ihn nur als Linksverteidiger einsetzen? Deutschlands einziger Stürmer (hat er darauf eigentlich ein Trademark?) gehört doch in den Strafraum! Was wiederum mich wunderte, denn der Volland, an den ich mich aus der Bundesliga erinnere, war alles, aber kein Strafraumstürmer. Die Aufregung war, wie so häufig auf Twitter, so überbordend wie gegenstandslos. Volland agierte keineswegs als Linksverteidiger, sondern als ziemlich offensiver Linksaußen beim Hail-Mary-Versuch, das 1:1 zu erzwingen. Er sollte ein paar diagonale Tempoläufe einstreuen und ein paar Flanken in den Strafraum schlagen. Hat er getan, hat nicht funktioniert. An dieser Personalentscheidung lag die Niederlage sicher nicht. Zumal ja eh kein Ball in den Strafraum kam. Insofern war es egal, ob Volland nun links herumsteht und keine Bälle bekommt oder ob er im Fünf-Meter-Raum herumsteht und keine Bälle bekommt.
  • Besitzt jemand eine Zeitmaschine, die er mir leihen könnte? Nach dem gestrigen Abend würde ich nämlich gerne ins Jahr 2012 zurückreisen. Damals debatierte halb Deutschland über die Frage, ob das EM-Aus gegen Italien nicht maßgeblich am Singverhalten der deutschen Nationalmannschaft gelegen habe. Viele Spieler sangen damals die Hymne nicht mit. Fast Forward neun Jahre: Gegen Frankreich sangen sämtliche Spieler die Hymne, teilweise sogar lautstark. Viel besser als damals gegen Italien sah das deutsche Team aber nicht aus. Steile These: Wenn man ein Fußballspiel gewinnen möchte, sollte man besser Fußball spielen, nicht lauter die Hymne singen.

Leseempfehlungen

The Athletic: Germany look unfinished, unrefined and inadequate against Europe’s best sides

Spiegel: »Mir lief es kalt den Rücken herunter« – Kardiologe erlebt Déjà-vu bei Dänemark-Spiel

Auswärtsspiele

Meine Analyse zum Deutschland-Spiel für die 11Freunde.

Das Titelbild, das Joachim Löw zeigt, stammt von Olaf Kosinsky, Lizenz: CC BY-SA 3.0.

5 thoughts on “EM-Tagebuch, Tag 5: Unterwältigende DFB-Elf

  1. Schöner Artikel, dein Output macht die EM interessanter. 🙂

    Zu dem technischen Unvermögen: Ein Problem der N11 erschien mir auch, dass man unbedingt viel direkt spielen wollte, es aber technisch sehr schlecht machte. Ungewöhnlich oft wurde ein Paß nicht angenommen, sondern versucht, direkt zu spielen. Und fast immer in einen Franzosen hinein. Das spricht einerseits fürs französische Stellungspiel, aber vor allem auch gegen die deutsche Paßqualität (die ja eigentlich sonst nicht übel ist).

    Es gab viele Situationen, wo ich mir dachte, dass man den Ball auch mal annehmen könnte und den Mitspielern kurz die Chance geben, via Bewegung das Spiel zu verändern. Oder – ja – mal ein einfaches Dribbling machen, um Paßwinkel und Räume zu verändern. Das Spiel wirkte dadurch einerseits hektisch, andererseits aber auch statisch, weil man wie im Flipperautomaten den Ball durch die Abwehr bringen wollte. Aber sowas gegen eine quantitativ wie qualitativ gut verteidigende Mannschaft versuchen? Und ohne 1-2 Spieler in der Box, die so einen Ball auch verarbeiten können? Das ist ja selbst gegen weniger gute Verteidigungsreihen eher sinnfrei.

    Das Problem dieser N11 ist, dass sie keine echte Idee haben, wie sie Tore erzielen wollen. Nichts gegen Müller, aber bei dieser Spielweise brauchst du ihn nicht, weil er dabei keine seiner Stärken einbringen kann (außer etwaige Defensivleistungen oder Pressingkommandos). Da wäre man IMO mit einem Sturm aus Werner und Havertz (die evtl. aus ihrer Chelsea-Zeit ein paar Ideen im Zusammenspiel entwickelt haben) und Sane (als Dribbelkönig) wesentlich besser aufgehoben.

    1. Den Kommentar (wie das von Tobias Escher Gesagte) kann ich fast in Gänze unterschreiben. Man darf sich vom Ergebnis nicht täuschen lassen – das war ein Klassenunterschied. Und ja, exakt das ist das Problem: Sie haben keinen (guten, weil stressstabilen) Plan, ein Tor zu erzielen. Die Mannschaften, auf die wir jetzt treffen, täten aus ihrer Sicht gut daran, einfach weiter tief und eng zu verteidigen – und erst mal abwarten, ob Deutschland darauf etwas (Neues) einfällt.
      Einen Punkt zur Ergänzung: Erkennbar läuft die Entwicklung von Nationalmannschaften (nicht nur der deutschen) in Wellen – und wenn ein gutes Gemisch beisammen ist, kann da etwas bei rauskommen. In Deutschland sieht es gerade nicht aus, als stimmte die Mischung. Kann es sein, dass es eben einfach auch personell etwas magere Jahre sind? Oder liegt es wirklich an der Guardiola-Imitatio von Löw (zu versuchen, die komplexen Abläufe eines stürmerlosen Spielsystems auf die Verhältnisse eines Nationalteams zu übertragen), dass es so wenig Torgefahr gibt? Ganz ehrlich: Es fehlt auch an Stürmern, der den beweglichen und schnellen Leuten da vorne etwas Körperlichkeit gibt, einen Anker, einen, der, volkstümlich gesprochen, auch einfach mal einen reinwemmst (siehe in der BL Lewandowski, Haaland, Weghorst – der letzte war für dich, Tobias!). Ohne den ist das deutsche System zur Zahnlosigkeit verdammt. Oder?

      Eure Meinungen dazu würden mich interessieren!

  2. Hallo Herr Escher,

    ihre Analyse gefällt mir wie meistens sehr gut. Eine Frage, wenn auch banal, ist mir dabei gekommen. Sie sprechen von 16 versuchten Dribblings bei den Franzosen. Auf whoscored.com werden 19 ausgewiesen. Woher kommt diese Differenz. Auch bei den Statistiken auf uefa.com gibt es Differenzen zu whoscored.com. Woher kommt das?

    Viele Grüße

    Timo Engel

    1. Hallo Herr Engel, meine Daten nehme ich tatsächlich von Whoscored.com. Ich habe gerade noch einmal nachgeschaut. Dort werden mir 16 Dribblings für die Franzosen ausgewiesen?! Grüße aus Hamburg!

  3. Hallo Herr Escher,
    wie ich gerade feststellen musste, gibt es tatsächlich eine Diskrepanz in den Daten bei whoscored.com zwischen „Matchcenter“ und „Chalkboard“. Warum auch immer.
    Grüße nach Hamburg

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