EM-Tagebuch, Tag 4: Klischeehafte Spanier und Schweden

Herzlich Willkommen zu meinem EM-Tagebuch! In unregelmäßigen Abständen möchte ich an dieser Stelle meine Gedanken zur Fußball-Europameisterschaft 2021 teilen. Das kann alles sein, von Einschätzungen zum Thema des Tages über taktische Analysen bis hin zu semiwitzigen popkulturellen Anspielungen. Heute geht es weiter mit einer ausführlichen Analyse des spanischen 0:0 gegen Schweden.

Von Klischees und totem Ballbesitz

Eigentlich dachte ich, wir wären über diesen Punkt hinaus. Der moderne Fußball ist derart globalisiert, dass nationale Stereotypen wie ein Relikt vergangener Tage wirken. Wieso sollte die deutsche Mannschaft „typisch deutschen“ Fußball spielen, wenn die Hälfte ihrer Startelf im Ausland spielt? Sollte der Einfluss von Trainern wie Pep Guardiola, Jürgen Klopp oder Thomas Tuchel nicht auch in der englischen Nationalelf spürbar sein?

In der Tat zeichneten die bisherigen Auftritte vieler Teams ein post-nationales Bild: Die Italiener spielten offensiven Ballbesitzfußball, wie man ihn in seiner Ausführung eher Pep Guardiola denn Roberto Mancini zuordnen würde. Auch bei den Engländern und den Belgiern waren diese Einflüsse deutlich zu erkennen. Die Niederländer verbannten das nationale 4-3-3-System zugunsten eines 3-5-2, während sich die sonst so heillos offensiven Türken am eigenen Strafraum verbarrikadierten.

Wer seine feste Dosis Nationalklischees benötigt, wurde am Montagabend entschädigt. Die Partie Spanien gegen Schweden hätte kaum Spanien-gegen-Schweden-mäßiger ablaufen können. Auf der einen Seite die Spanier, die Flachpass auf Flachpass reihten; am Ende spielten sie fast 1000 Pässe, womit sie, natürlich, den bisherigen Turnierrekord aufgestellt haben. Auf der anderen Seite die Schweden, die sich im Nationalheiligtum 4-4-2 an den eigenen Strafraum zurückzogen und die Räume so eng machten, wie nur Schweden das eben können.

Womit wir bei einem tausendfach durchgekauten Diskurs angelangt sind: Fehlen dem spanischen Ballbesitzfußball die Schneidezähne? Oder wie Journalist Miguel Delaney es ausgedrückt hat: Man hat das Gefühl, als würde man spanischen Nationalmannschaften bei Turnieren fast immer dabei zusehen, wie sie sich mit dem Toreschießen schwertun.

Ganz so einfach ist es natürlich doch nicht. Die spanische Dominanz, ausgedrückt in Flachpässen und Verlagerungen und dann wieder Flachpässen und Verlagerungen, hat natürlich erst einmal einen Wert an sich. Wer selbst den Ball hat, muss nicht fürchten, ein Gegentor zu kassieren. Nicht umsonst nennen Hater den Stil der spanischen Nationalmannschaft tikinaccio: eine Verbindung aus tiki taka und dem italienischen Mauerfußball Catenaccio. Was aber leicht aussieht, erfordert Präzision und genaue Abläufe. Auch gegen die Schweden war Spaniens Raumbesetzung ideal, der Ballführende hatte immer mindestens eine Anspielstation.

Nur das Wichtigste haben sie vergessen: das Toreschießen. Besonders in der zweiten Halbzeit hatten sie kaum mehr Ideen, wie sie nicht nur um die gegnerische Formation herum-, sondern auch in diese Formation hineinspielen konnten. Auch hierzu hatte Delaney eine klare Meinung: Es fehlt, frei gesagt, ein Stürmertyp wie David Villa. Seine Einschätzung, er sei der wichtigste Spieler der spanischen Ära 2008-2012, gilt auf jeden Fall bis 2010. Bei der WM war er an jedem Treffer bis zum Viertelfinale direkt beteiligt. Gerade gegen kleinere Nationen wie Honduras oder Paraguay waren seine Durchbrüche im letzten Drittel immens wichtig. Dass vorne ein Stürmer in den Strafraum startet oder mit dem Ball am Fuß das Duell gegen zwei Gegenspieler suchte: Das fehlte gegen Schweden.

Ein Villa allein genügt aber nicht. Was Spanien fehlte, waren progressive Pässe ins letzte Drittel. Im goldenen Zeitalter kam auf jeden Xavi mit kurzen Pässen ein raumgreifender Passer wie Xabi Alonso; auf jeden spielintelligenten Iniesta kam ein tororientierter Pedro. Diese Balance fehlt den Spaniern. Noch.

Das gehört nämlich auch zur Wahrheit: Bei all ihren großen Erfolgen haben die Spanier in ihren ersten Partien nie so gut ausgesehen wie im weiteren Turnierverlauf; man erinnere sich nur an das 0:1 gegen die Schweiz 2010. Spaniens Zeit wird schlagen, wenn sie etwas mehr Räume erhalten und ihr (neu gewonnenes) Tempo einbringen können, wie dies beim 6:0 gegen Deutschland der Fall war.

Plus: Kaum ein Land dürfte es ihnen so schwer machen wie die Schweden. Hier wären wir beim zweiten Nationenklischee. Überspitzt formuliert: Man könnte einen beliebigen Schweden nachts um zwei Uhr wecken, er könnte im Detail aufsagen, wie ein Außenverteidiger im tiefen 4-4-2 zu verteidigen hat. Die Schweden haben es geschafft, mit ihren zwei Viererketten immer wieder Überzahlsituationen herzustellen. Jeder Schwede, der in einen Zweikampf ging, wurde diagonal von zwei Kollegen abgesichert. Daher hätte es Spanien kaum etwas gebracht, einen Dribbler einzuwechseln: Selbst wenn dieser an einem Gegenspieler vorbeigegangen wäre, hätte er sich sofort zwei weiteren gegenübergesehen.

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Den Schweden spielt dieses Unentschieden in die Karten. Sie können nun gegen die Polen erneut auf ihre stabile 4-4-2-Defensive setzen. Wie viele Probleme die Polen mit einem tiefstehenden Gegner haben, zeigten sie bei der 1:2-Niederlage gegen die Slowakei. Gegen Letztere wiederum werden wir vielleicht ein anderes Schweden erleben müssen. Vielleicht beweisen sie ja dann, dass sie mehr sind als das typische Schweden-Klischee.

Deutschland startet ins Turnier

Ich möchte euch an dieser Stelle nicht mit der xten Analyse der deutschen Chancen gegen Frankreich behelligen. Wer sich für meine taktischen Gedanken vor dem Spiel interessiert, möge in die aktuelle Ausgabe der Rocketbeans EM-Show hineinschauen (Timecode ist gesetzt). An dieser Stelle möchte ich mich mit einem kleinen, subjektiven Ausblick auf die Partie begnügen.

Ich traue der deutschen Mannschaft nicht über den Weg. So gar kein Stück. Also so überhaupt nicht. Zu frisch sind die Erinnerungen an das 0:6 gegen Spanien, zu wenig aufgearbeitet erscheint mir das katastrophale Aus bei der WM 2018. Dass wie schon gegen Spanien Gündogan und Kroos im Mittelfeld auflaufen sollen, bereitet mir größte Sorgen. Ich kann mich an kein gutes Spiel der DFB-Elf erinnern, in welchem die Beiden die Doppelsechs bildeten.

Hoffnung schöpfe ich aus den Außenverteidiger-Positionen. Sollte Frankreich in einer Raute auflaufen, wie sie das zuletzt getan haben, könnten wir unsere Chancen über die Flügel erhalten. Robin Gosens hat mich in den Testspielen überzeugt, und Kimmich ist ohnehin über jeden Zweifel erhaben. Wenn etwas geht gegen Frankreich, dann über die Außenpositionen.

Dennoch halte ich meine Erwartungen niedrig. Das kann ja auch etwas Gutes sein: Wer das Schlimmste erwartet, kann am Ende nur überrascht werden.

Kurze Beobachtungen

  • Der Druck auf Robert Lewandowski könnte nicht größer sein. Vom Weltfußballer wird nicht weniger erwartet, als dass er auch für die polnische Nationalmannschaft Tore am Fließband erzielt. Das fällt einem Stürmer aber nicht leicht, wenn er keine Zuspiele erhält. Gegen die Slowakei schoss er dennoch fünfmal aufs Tor. Drei dieser Schüsse gab er jedoch weit außerhalb des Strafraums ab. Das ist keine gute Quote für einen Stürmer, der 38 seiner historischen 41 Saisontore innerhalb des Strafraums erzielt hat.
  • Möchte man Patrik Schicks Karriere in einer Halbzeit zusammenfassen, böte sich der tschechische 2:0-Sieg gegen die Schotten an. Kurz nach der Halbzeit zirkelt er einen Ball von der Mittellinie ins leere Tor. Expected-Goals-Wert: 0,01. Zehn Minuten vor Schluss kam er freistehend und ungedeckt aus neun Metern zum Abschluss – und spielte einen Pass auf den Torhüter. Expected-Goals-Wert: 0,4. So einen Stürmer wünscht sich jeder Fan. Also jeder masochistisch veranlagte Fan. Grüße gehen raus nach Leverkusen.
  • Einmal noch kurz zurück zu Spanien gegen Schweden. Man liest heute in Analytics-Kreisen auf Twitter, dass Spanien eigentlich ziemlich gut war. Als Beweis wird ihr Expected-Goals-Wert herangezogen, der über 2 lag. Von mir gibt es die klassische „Ja, aber“-Antwort. Spanien hatte in der ersten Halbzeit gute Chancen. Bis zur Pause hatten sie einen xG-Wert von 1,2. Bis zur Nachspielzeit der zweiten Halbzeit kamen nur 0,3 Expected Goals dazu. Erst in der Nachspielzeit hatten sie wieder gute Chancen. Heißt: Sie haben 45 Minuten lang keine Großchance herausgespielt. Insgesamt mag der Expected-Goals-Wert also hoch sein, mit weiten Teilen der Partie kann der Trainer trotzdem nicht zufrieden sein. Manchmal liegt der Teufel im Detail. Das ist ein Grund, warum ich das Herumwerfen einzelner Expected-Goals-Werte für nicht sinnvoll erachte.

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Das Titelbild „Uefa-Trophy 2021“ stammt von Marco Verch, Lizenz: CC-BY 2.0.

2 thoughts on “EM-Tagebuch, Tag 4: Klischeehafte Spanier und Schweden

  1. Finde es gut, wie du auf die Klischees eingehst und erklärst. Generell hat das wohl generell immer viel damit zu tun, dass der Mensch grundsätzlich versucht, ein Narrativ zu schaffen, das für ihn Sinn ergibt. Dann hat man eine Basis für Argumente und Gegenargumente und kann andere damit abtun, dass es eben eine Ausnahme war, dass das diesmal so und so war.

    Ich finde es sehr schön, wie du aufgezeigt hast, dass diese spanische Spielweise grundsätzlich gut ist, aber von den Akteuren stark beeinflusst wird. Spieler sind nicht austauschbar, sie bringen mehr mit als nur ihr „DM“ oder „RA“-Placet. Wo der eine stark zum Tor hinzieht, hat der andere auch immer ein Blick auf die Gesamtstruktur im Ballverlustfalle. Bei Spanien überwiegt wohl wirklich etwas zu viel die Paßverliebtheit, bzw. ist man zu homogen aufgestellt, dabei sieht man bei den großen Teams im Detail meistens, dass gerade im Verlauf eines Turnieres das gesamte Orchester gebraucht wird, nicht nur die Violinen.

    Und auch danke für das „Luftrauslassen“ aus Expected Goals. Sicher, wenn man öfter den Ball mal aufs Tor bringt, steigt der Wert. Wie eine Punktwertung beim Boxen. Aber diese gibt es nicht beim Fußball. Für mehr Exp-Goals gibt es nicht mehr Punkte und wenn der Gegner dir den Lucky Punch verpasst, helfen dir 12 von 12 nach Punkte gewonnen Runden nicht weiter. Spanien hätte durchaus ähnliches geblüht.

    Und zu GER-FRA… jupp… das ist halt so ne Sache. IMO wird das nur nicht schlimm für Deutschland, wenn Frankreich ein wenig auf den Bluff reinfällt, dass der deutsche Kader nach GoalImpact der deutlich stärkste ist. Wenn sie nicht feststellen, dass wir im zentralen Mittelfeld eine Fontanelle haben, an deren Ende nur ein (dafür gut gewappneter) Hummels steht. Wenn sie drauf reinfallen, wirds wohl ein 0:0 werden. Ansonsten wirds scheppern.

  2. Mich macht es immer nervös, wenn Toni Kroos ohne Absicherung spielt – und Gündogan als sein Nebenmann steigert dies sogar noch. Ich befürchte Schlimmes, hoffe aber natürlich, dass ich mich irre.

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