Eschers EM-Tagebuch, Tag 2: Voyeurismus & Ballbesitz

Herzlich Willkommen zu meinem EM-Tagebuch! In unregelmäßigen Abständen möchte ich an dieser Stelle meine Gedanken zur Fußball-Europameisterschaft 2021 teilen. Das kann alles sein, von Einschätzungen zum Thema des Tages über taktische Analysen bis hin zu semiwitzigen popkulturellen Anspielungen. Los geht es mit ein wenig Ballbesitz-Arithmetik und dem Thema, das alles überschattet: Christian Eriksens Zusammenbruch beim Spiel Dänemark gegen Finnland und die Berichterstattung drumherum.

Die Uefa, Voyeurismus und die Willfährigkeit der Sendeanstalten

Nein, ich habe keine Ahnung, wie man hätte umgehen sollen mit Christian Eriksens Zusammenbruch. Hätte das Spiel Dänemark gegen Finnland sofort abgebrochen werden sollen? War es die richtige Entscheidung, es wieder anzupfeifen? Hätten die übertragenden TV-Anstalten schneller wegschalten müssen? Im Nachhinein sind solche Fragen immer leicht zu beantworten. Kein Mensch möchte jedoch selbst in dieser Situation stecken, eine dieser Entscheidungen treffen zu müssen. Alle Verantwortlichen dürften unter Schock gestanden haben.

Ich kann an dieser Stelle nur wiedergeben, was meine Gedanken waren, während Eriksen am Boden lag und es keineswegs klar war, dass er wieder aufstehen würde: Krass, das Fernsehen überträgt gerade live, wie ein Mensch stirbt. Zum Glück kam es anders.

Ein schlimmstmögliches Szenario wie dieses wirkt immer auch wie ein Brennglas; es potenziert kleinere Probleme, bis diese kleineren Probleme lichterloh brennen und für niemanden mehr zu übersehen sind. Konkret wirft der gestrige Abend die Frage auf: Wie kann es eigentlich sein, dass im Fernsehen mehrere Minuten lang Aufnahmen eines Menschen zu sehen sind, der mit dem Tod ringt?

Fußball hat eine gewaltige Bildmacht. Das TV liefert uns Bilder von Menschen, die ihren Grundemotionen freien Lauf lassen. Es zeigt freudestrahlende Gesichter nach dem Torerfolg, zu tief betrübte Menschen nach einer Niederlage, Stürmer, die vom Abseitspfiff des Schiedsrichters kalt erwischt werden. Das alles sehen wir, modernster Technik sei Dank, in hochauflösenden Nahaufnahmen. Das alles – so ehrlich müssen wir mit uns selbst sein – wollen wir auch sehen. Wie heißt es so schön: Fußball lebt von Emotionen.

Das bedeutet aber zugleich, dass jede Emotion eingefangen wird. Jede. TV-Bilder machen keinen Halt bei Schmerzen, emotionaler wie auch physischer Art. Tatsächlich scheint dieser Reflex, am Boden liegende Menschen zu filmen, tief eingebrannt zu sein bei jedem Kameramann und jedem Regieassistenten, der bei einem Fußballspiel arbeitet. Wenn ein Spieler nach einem Zweikampf zu Boden geht, dauert es keine zwei Sekunden, ehe die Regie eine Großaufnahme seines schmerzverzerrten Gesichts einblendet. Egal, ob der Spieler fünf Sekunden später wieder aufsteht oder ein Kreuzbandriss seine Karriere beendet: Der Schmerz wird gezeigt, und das dazugehörige Foul am besten noch dreimal in Zeitlupe. Dieser Reflex griff auch bei Eriksen: Erst einmal in Großaufnahme auf den Spieler! Wird schon „nur“ eine Verletzung sein. Es ist der menschliche Voyeurismus, der hier bedient wird. Solange die Spieler auf dem Fußballplatz sind, gehören sie uns. Die Uefa versorgt uns mit ungefilterten Bildern. Fußballer sind in dieser Hinsicht tatsächlich moderne Gladiatoren, nur eben detailgetreu gefilmt und besser ausgeleuchtet.

Wie sehr sich Fußballer dieser Rolle bewusst sind, bewies die Reaktion der dänischen Spieler nach Eriksens Zusammenbruch. Sofort bildeten sie eine Mauer um ihren Teamkollegen. Sie schirmten ihn vor den Zuschauern vor Ort ab, vor allem aber vor den Kameras. Sie hatten keinerlei Vertrauen darin, dass die Kameramänner um das Feld das Richtige tun und Eriksen nicht weiter filmen würden. Unbewusst oder vielleicht sogar bewusst weiß jeder Profisportler: Unsere Intimsphäre verlassen wir mit dem Betreten des Platzes.

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Womit wir bei der Rolle der übertragenden TV-Anstalten wären. Das ZDF und die BBC weisen zurecht daraufhin, dass sie keinen Einfluss nehmen auf die Bilder aus den Stadien. Die Uefa liefert diese Bilder. Die übertragenden TV-Anstalten sind vertraglich verpflichtet, sie unverändert auszustrahlen. Wenn nun also im Fernsehen zu setzen ist, wie Eriksen zuckend am Boden liegt oder wie seine Frau mit den Tränen ringt, stammen die Bilder von der Uefa. Das ZDF hat einfach nur ausgestrahlt, was die Uefa bereitgestellt hat.

Nun ist es aber so, dass die Menschen nicht Uefa TV einschalten. Die Uefa könnte diese Bilder gar nicht in die Wohnzimmer Europas transportieren. Das tun die TV-Anstalten, die viel Geld für diese Bilder zahlen. Das dänische Fernsehen schaltete bereits nach kürzester Zeit auf das Bild eines Hubschraubers, der über Kopenhagen kreiste. Das ZDF hingegen hatte keinen Hubschrauber vor Ort. Sie zeigten über fünf Minuten die Kamerabilder der Uefa, die wieder und wieder die verstörten Blicke von Eriksens Teamkollegen einfingen.

Da stellt sich natürlich die Frage, die ich eingangs des Artikels gar nicht stellen wollte: Warum nicht einfach rausgehen? Warum muss so etwas übertragen werden? Die BBC beantwortete dies mit entwaffnender Ehrlichkeit: „Die Übertragung im Stadion wird von der UEFA als Gastgeber kontrolliert. Sobald das Spiel unterbrochen wurde, haben wir unsere Berichterstattung so schnell wie möglich abgeschaltet.“ Übersetzt: Man wollte die Bilder ja gar nicht zeigen, tat dies aber doch, weil die Uefa das Spiel nicht früher offiziell unterbrochen hat.

Das zeigt deutlich das große Problem der TV-Anstalten: Mit jeder Verhandlungsrunde über TV-Rechte haben sie sich mehr dem Willen der Rechteinhaber gebeugt. Diese geben vor, was gezeigt wird. Wer etwa Highlights von Fußballspielen senden will, muss exakte Vorgaben einhalten: mindestens fünf Minuten Spiel X, maximal drei Minuten Spiel Y, und bitte keine Bilder, die die Rechteinhaber nicht zeigen wollen. Wann hat zuletzt jemand einen Flitzer im Stadion gesehen? Doch, doch, die gibt es noch. Die Uefa zeigt sie nur nicht mehr, und die unabhängigen TV-Anstalten haben selten Kameras vor Ort, um sie einzufangen. Gesendet wird das Bild, das die Rechteinhaber vermitteln wollen, nicht was journalistisch richtig wäre.

Während die BBC wenigstens verklausuliert die Bilder der Uefa kritisierte, sagte ZDF-Sportchef Thomas Fuhrmann der dpa: „Ich kann auch keine Kritik an der internationalen Regie der UEFA üben. Als sich das Ausmaß der schweren Verletzung abzeichnete, gab es keine Naheinstellungen oder andere unpassende Bilder.“ Die Option, gar keine Bilder zu zeigen, scheint für Fuhrmann nicht existent.

Dabei zeigte doch gerade dieser Abend so schön, wie die Uefa die Macht ihrer Bilder ausreizt und wie die TV-Anstalten diese Macht fördern. Auf der Strecke bleibt die Würde der Spieler. Selbst wenn sie selbst mit dem Tod ringen oder um das Leben eines Mitspielers bangen: Ihre Emotionen müssen gezeigt werden. Sie gehören der Uefa, und die Sendeanstalten übertragen willfährig deren Bilder.

Die Ära der (Ballbesitz-)-Ungleichheit

Wie soll man nun überleiten von Nahtoderfahrungen zu Ballbesitzstatistiken? Am besten gar nicht, aber the show must bekanntlich go on. Vier Spiele gab es bisher zu bestaunen, und was durchaus interessant ist: Alle vier Spiele waren geprägt von klaren Ballbesitzverhältnissen. 63,4% Ballbesitz sammelten die Italiener Whoscored.com zufolge beim 3:0-Sieg gegen die Türkei. Die Schweizer kamen beim 1:1 gegen Wales auf 64,2%. Die Dänen holten im seltsamen Aufeinandertreffen mit den Finnen gar 69,2% Spielanteile. Die Belgier hatten beim 3:0 über Russland mit 66,4% etwas weniger Ballbesitz. In allen Spielen waren die Rollen aber klar verteilt: Auf der einen Seite ein Team, das Ball und Gegner laufen ließ. Auf der anderen Seite eine Mannschaft, die etwas tiefer stand und den Ball dem Gegner überließ.

Extreme Ballbesitzwerte wie diese sind im Klubfußball eine vergleichsweise neue Sache. Dass ein Team über 60% Spielanteile hat, war in der Bundesliga bis vor wenigen Jahren die Ausnahme. Klar, die Bayern lässt man spielen, aber sonst? Mit der sich verschärfenden finanziellen Ungleichheit wuchs auch die Ungleichheit im Ballbesitz. Wenn Bielefeld heute auf Leverkusen, Gladbach oder Leipzig trifft, gehen sie als krasser Außenseiter ins Spiel – und taktieren auch entsprechend.

Im Nationalmannschaftsfußball sind extreme Ballbesitzwerte indes nicht gänzlich neu. Das liegt in der Natur der Sache: Die Unterschiede zwischen Groß und Klein sind hier noch stärker präsent als im Klubfußball. Ex-Nationaltrainer Rudi Völler mag im Jahr 2003 nach einem 0:0 gegen Island erklärt haben, es gäbe keine Kleinen mehr im Verbandsfußball, aber das war eher Quatsch. Auch vor zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren hätte die Türkei gegen Italien das Heil in der Defensive gesucht.

Was aber durchaus interessant ist: Die Paarung Ballbesitz-gegen-Defensive und damit auch Favorit-gegen-Außenseiter gab es bei dieser EM bisher nicht nur in Spielen mit absoluten Topfavoriten. Dass Italien und Belgien ihre Spiele dominieren: Damit war zu rechnen. Doch dass selbst Dänemark und die Schweiz sich plötzlich krassem Außenseiter-Fußball entgegensehen: Das ist neu. Die Hierarchie scheint bei dieser EM bisher recht klar ausgeprägt zu sein. Was es für Mittelklasse-Nationen wie die Schweiz schwermacht: Gegen das walisische 5-4-1 hätte sogar manch besser eingespielte Klub-Mannschaft Probleme gehabt. (Dänemarks 0:1 gegen Finnland entzieht sich wiederum jeder Analyse.)

Ich bin gespannt, ob dieser Trend anhält oder ob wir bald ein Spiel erleben, in dem beide Teams gleichermaßen den Ball laufen lassen. Mein Tipp: Kroatien gegen England könnte so eine Partie werden. Bei den Spielen Österreich gegen Nordmazedonien sowie Niederlande gegen Ukraine erwarte ich wieder klare Ballbesitz-Statistiken.

Kurze Beobachtungen

  • Beeindruckt haben bisher vor allem die Italiener. Ihr klares Ballbesitzsystem werde ich im Verlaufe des Turniers noch das ein oder andere Mal erwähnen. Bis hierhin empfehle ich einen Blick in die Leseempfehlungen weiter unten.
  • Aus unserer beliebten Kategorie „Spieler, die Okay heißen, aber gegen Italien eher mäßig performt haben“: Okay Yokuşlu. Raumintelligente Sechser sind eben eine Rarität im modernen Fußball, werden aber besonders beim 4-1-4-1 benötigt.
  • Die Belgier knien als Protest gegen Alltagsrassismus, das russische Publikum pfeift sie aus, nur damit der lautstark gegen Rassmismus engagierte Romelu Lukaku ihr Team mit 3:0 abschießt: eigentlich eine klassische Feel-Good-Story. Trotzdem schwadronierte Per Mertesacker im ZDF anschließend: „Ich hoffe, das war ein Zeichen gegen Rassismus und nicht nur gegen das russische Volk.“ Mertesacker hat unbewusst gleich zwei Talking Points der neuen Rechten aufgegriffen. Punkt eins: Beim Knien gehe es nicht in erster Linie um Rassismus, sondern um andere, niedere Beweggründe. Punkt zwei: Russland habe sich seine internationale Isolation nicht selbst zuzuschreiben, sondern werde von Europa unnötig kritisch behandelt. Wobei ich Mertesacker, das soll unterstrichen werden, weder Boshaftigkeit noch eine rechte Gesinnung vorhalte. Er hat sich nur unglücklich ausgedrückt. Mir drängt sich eher die Frage auf: Schult denn eigentlich niemand die Experten in solchen Fragen? Dass es zu diesen Protesten kommen wird, war bereits vor der EM klar. Gerade die englischen Spieler haben mehrfach erklärt, wie sie diese Aktionen eingeordnet wissen wollen. Da auf die Idee zu kommen, es handle sich um eine Geste gegen das russische Volk, ist schon ziemlich vorbei an der eigentlichen Sache.

Leseempfehlungen

Die große Spielverlagerung EM-Vorschau

Neunzigplus: Italien nach dem Auftaktsieg: Der große Favorit im Schatten Frankreichs?

The Athletic: My game in my words. By Manuel Neuer

Das Titelbild „Fernsehkamera von Sky während eines Fußball-Spiels“ stammt von Steindy, Lizenz: GNU Free Licensing.

3 thoughts on “Eschers EM-Tagebuch, Tag 2: Voyeurismus & Ballbesitz

  1. Ich hoffe ganz stark, dass jetzt und in der Zukunft Fußball- und Sportexperten keine politische Schulung durchlaufen müssen, bevor sie sich in eine Sendung setzen dürfen.

  2. Finde das Verhalten der Sendeanstalten sollte hier nicht nur auf den Fußball reduziert werden. Letztendlich sollten die sich meiner Meinung nach bewusst sein, wie sie sich im Rahmen einer Live Sendung verhalten wollen, wenn Bilder entstehen, die offensichtlich nicht gesendet werden sollten/können. Bei Wetten, dass… damals wurde die Sendung auch nicht unmittelbar abgebrochen und stattdessen zu einer Kameraeinstellung aufs Publikum gewechselt, während Gottschalk nach Worten ringt (was meiner Meinung nach, ähnlich wie bei den übertragenen Reaktionen gestern, immer noch unangemessen ist).

    Fand es dann auch nicht ganz nachvollziehbar warum nach der Rückgabe ans Studio noch zweimal (?) wieder zurück zum Kommentator im Stadion geschalten wurde.

    Um den Kommentar nicht so negativ wirken zulassen möchte ich mich dann aber auch noch bei dir bedanken. Bin erst vor Kurzem auf die Bohndesliga gestoßen und finde das Format mit eurer Zusammensetzung super, obwohl ich mich nicht als klassischen Fußballfan bezeichnen würde. Freue mich auf die restlichen Spiele, eure Sendungen & die Beiträge hier.

  3. Stichwort Eriksen:
    Vor vielen Jahren kam der Wrestler Owen Hart bei einem Stunt im Rahmen einer Großveranstaltung ums Leben (er stürzte von der Hallendecke in den Ring, die Sicherung mittels eines Harnischs war fehlerhaft). Die WWE/WWF war damals durchaus in ihrer Hochphase der Exploitation- und Crash-TV-Reihe. Trotzdem waren da wohl irgendwelche Regie-Menschen so bedacht und haben die Kamera nur auf die Kommentatoren gehalten, die informiert haben. Der Umgang mit dieser direkten Krisensituation war sehr gelungen, das sollte im Grunde auch die Regel sein. Informieren, aber nicht ausschlachten. Das diese Großveranstaltung danach weiter ging, ist dann wieder eine andere Entscheidung, und da wird es nie eine einstimmig richtige Entscheidung geben. „The Show must go on“ oder „ein Reiter sollte sofort nach einem Sturz wieder zurück aufs Pferd“… mag sein. Kann man nie sagen. Viele Zuschauer sind vielleicht geschockt oder gar traumatisiert. Sie in Ruhe zu lassen kann helfen. Oder sie abzulenken von diesem Vorfall. Wer will das entscheiden?

    Am Ende des Tages kann ich es nachvollziehen und verstehen und ein Stück gutheißen, wenn man danach weitermacht und nicht aufhört. Man selbst hat die Wahl, ob man das mit macht. Auch die Spieler können entscheiden, auch wenn die eine deutlich heftigere Wahl zu treffen haben.

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