Donald Trump ist in vielerlei Hinsicht ein Phänomen. Er hat so viele geschriebene und ungeschriebene Gesetze gebrochen – und trotzdem feiern ihn seine Anhänger. Wie sagte er selbst einst so treffend: Er könne einen Mann auf offener Straße erschießen, die Maga-Kappenträger würden ihn trotzdem lieben. Dennoch heulen nach jedem Trump’schen Fauxpas die gleichen Stimmen auf: Jetzt ist er demaskiert! Nun können ihn selbst seine größten Fans nicht mehr verteidigen!
Als Sportjournalist, der sich in den Sozialen Medien bewegt, kann ich da nur müde lächeln. Ich kenne Parteilichkeit nur zu gut. Ich muss nur einen Tweet zu irgendeiner Schiedsrichter-Entscheidung absetzen und weiß: Gleich kommen die Fans! Ein Foul kann noch so eindeutig sein, es finden sich immer Fanatiker, die genau wissen, dass ihr Verein gnadenlos verpfiffen wurde.
Was nicht sein kann, darf nicht sein. Keine Realitätsverzerrung ist zu dumm, solange das eigene Lager am Ende als Opfer höherer Mächte dasteht. Denn wenn jemand Trump oder Taylor Swift oder den HSV kritisiert, kritisiert er nicht nur die Person: Er kritisiert damit auch den zentralen Lebensinhalt ihrer Anhänger. Schließlich haben viele von ihnen ihre Identität um ihr großes Idol herum aufgebaut.
Woher rührt es, dass sich immer mehr Menschen im Fanatismus verfangen? Schon wesentlich gebildetere Menschen als ich sind an dieser Frage gescheitert. Dennoch möchte ich in diesem Essay mehrere Themen aufgreifen, die mich beschäftigen: vom Vertrauensverlust in Institutionen bis hin zur Polarisierung der Gesellschaft. Es geht hierbei um nicht weniger als um die Seele westlicher Gesellschaften.
Es ist nicht leicht, sich eine Rede von Donald Trump anzuhören. Wer sich im US-Wahlkampf durch seine teils stundenlangen Monologe quälte, hörte einen Mann, der wild von Thema zu Thema sprang. Nur selten endeten seine Erzählungen mit einer Pointe. Trump hat im Vergleich zu 2016 merklich abgebaut.
Dennoch lässt er auch heute noch sein rhetorisches Talent aufblitzen. Es liegt nicht darin, über reale Politik zu reden; man wird von Trump nie Zahlenkolonnen oder belastbare Fakten hören. Vielmehr tritt Amerikas Präsident wie ein Prediger auf: Mit großen Gesten und einfachen Worten verbrüdert er sich mit seinen Anhängern. Er teilt die Welt stets in „Gut“ und „Böse“. Wer auf seiner Seite steht, gehört selbstredend zu den Guten.
Trump hat wie kein Zweiter verstanden, dass es in der Politik des 21. Jahrhunderts selten um Inhalte geht. Es geht darum, die Seele des Volks anzusprechen.
Wie religiös seine Rhetorik ist, lässt sich mit einem Zitat aus seinem ersten Wahlkampf belegen. Er hielt sie wenige Tage, nachdem ihn US-Medien sexistische Kommentare nachweisen konnten („Grab ‚em by the pussy“). Trump behauptete wahrheitswidrig, die Vorwürfe seien falsch. Auch sonst hielt er es mit der Wahrheit nicht so genau; die Rede war gespickt mit Verschwörungstheorien und Lügen. Doch Trump stilisierte sich als Märtyrer, der für seine Anhänger kämpft:
„Ich hätte nie geahnt, dass es so hässlich wird, so schlimm, so niederträchtig. Doch ich nehme all diese Schleudern und Pfeile auf mich – für euch. Ich nehme sie für unsere Bewegung auf mich, damit wir unser Land zurückerobern.“ Donald Trump
Es steckt alles in diesem kurzen Zitat, was Trumps Maga-Bewegung ausmacht: Trump ist für sie kein Politiker, der Lösungen anbietet. Für seine engsten Anhänger ist er so etwas wie ein Heiland. Überlebensgroß. Messianisch. Kein Wunder, dass sie ihm alles verzeihen: Wenn sie zugeben würden, dass Trump falschliegt, müssten sie ihre Identität als Trump-Anhänger hinterfragen. Bevor sie dies tun, folgen sie ihrem Idol lieber – selbst wenn dieser binnen drei Tagen viermal seine politische Position wechselt.
Insofern ist es auch die falsche Strategie der Demokraten, auf den Moment zu warten, indem die Anhänger selbst negativ von Trumps irrer Politik betroffen sind. Sie werden sich dann nicht von ihm abwenden. Alles, was schlecht läuft, sind schließlich nur Steine auf dem Weg ins gelobte Land.
Wieso haben Menschen überhaupt den Drang, sich einer quasi-religiösen Bewegung wie der Trump’schen anzuschließen? In vielerlei Hinsicht hat dies mit dem Wegfall traditioneller Institutionen zu tun. Trump stiftet einen neuen Sinn für Menschen, deren Identifikationspunkt verloren gegangen ist.
Die Frage nach dem Seelenheil wird häufig als religiöse Frage abgetan. Dabei geht es im Grunde um eine viel größere Frage: Was macht einen Menschen zu dem, was er ist? Religion ist darauf eine mächtige Antwort, da sie viele Aspekte der Identität abdeckt: von moralischen Aspekten bis hin zu einem Gemeinschaftsgefühl. Religion ist jedoch nicht die einzige Antwort: Menschen können ihre Identität auch aus der Familie, der Arbeit oder der Gemeinschaft ziehen.
Viele Institutionen, die den Menschen Sinn gestiftet haben, haben in den vergangenen Jahrzehnten massiv an Einfluss verloren. Wer nach dem Zweiten Weltkrieg Arbeit fand, konnte sich in vielen Branchen sicher sein, in seiner Firma lebenslang angestellt zu sein. Die Kirche war ein wichtiger Ort nicht nur für das seelische, sondern auch das soziale Heil. Die Familie wiederum war der Rückzugsraum vieler Menschen.
Alle diese Grundpfeiler der westlichen Gesellschaft haben spätestens seit den Neunziger Jahren an Einfluss eingebüßt. Die USA sind hier in der Tat ein gesonderter Fall; Religion spielt hier noch eine größere Rolle als in nahezu allen anderen westlichen Gesellschaften. Dafür erodierte in den USA vor allem das Vertrauen in die Institution Staat. Immer mehr Menschen leben in relativer Armut. Zugleich haben Afghanistan- und Irakkrieg das Selbstverständnis der Nation erschüttert.

In Deutschland lässt sich der Prozess des Identitätsverlustes einfacher erklären. Der klassische deutsche Traum bestand aus einer kleinen Familie, einem Haus im Grünen sowie einem stabilen Arbeitsplatz. Doch die Familien werden in Zeiten der Geburtenkrise immer kleiner. Während meine Mutter noch insgesamt acht Cousins hatte, ist mein Sohn das einzige Kind in der gesamten Familie. Ein Einfamilienhaus ist selbst für mich unerschwinglich geworden – und mein Verdienst liegt ziemlich genau im Bundesschnitt. Der Anteil der Arbeitnehmer, die länger als zehn Jahre in einem Betrieb arbeiten, sank in den vergangenen zehn Jahren von 48% auf 42% – und das, obwohl Arbeitnehmer tendenziell immer älter werden. Gerade junge Arbeitnehmer kennen Arbeitsplatzsicherheit kaum mehr. Der deutsche Traum existiert nur noch für wenige Menschen.
Zugleich ist eine Institution gänzlich weggefallen, die für das Seelenheil der Menschen verantwortlich war: die Kirchen. Sie haben einen beispiellosen Mitgliederschwund zu beklagen. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik stellen die Konfessionslosen die Mehrheit. Allein in den vergangenen zehn Jahren sind in Deutschland knapp acht Millionen Menschen aus der Kirche ausgetreten; das entspricht 10% der Bevölkerung.
Es ist keine Überraschung, dass die Menschen sich neue Wege suchen, Sinn für ihr eigenes Leben zu finden. Für manche Menschen ist Politik die Antwort – jedoch gewiss nicht für alle. Für das Seelenheil sind heute nicht mehr Pfarrer zuständig, sondern andere Institutionen.
So werden immer mehr Menschen zu Fanatikern. Zum Verständnis: Für mich ist das Wort „Fans“ letztlich nur die Kurzform für „Fanatiker“. Es bezeichnet Menschen, die ihr Leben einem Zweck verschreiben. Der Zweck muss nicht gleich die Vernichtung der westlichen Welt sein. Fanatiker verfolgen vielleicht ausgiebig ihren Lieblingsmusiker, reisen zu jedem Auswärtsspiel ihres Lieblingsvereins, spenden hunderte Euro an einen Twitch-Streamer oder tauschen sich den ganzen Tag in Foren über ihren liebsten Anime aus.
Ich kann vorrangig über den Bereich sprechen, mit dem ich mich am besten auskenne: dem Fußball. Fankultur in seiner heutigen Form ist kein jahrzehntealtes Phänomen. Natürlich: Die Stadien sind seit nunmehr hundert Jahren gut gefüllt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Stadionbesuch aber eher ein sonntägliches Ritual, das man nach dem Kirchgang einstreute. Kaum Menschen kamen damals auf die Idee, ihr gesamtes Leben um ihren Lieblingsverein herumzubauen.
Das hat sich geändert: Für Tausende Menschen ist der Fußball ein identitätsstiftendes Element. Der Stadionbesuch am Samstag ersetzt in vielerlei Hinsicht den Kirchgang. Eine Kirche schenkt dem Menschen nicht nur einen Gott, sondern auch Wertevorstellungen, eine Gemeinschaft sowie einen festen Ablauf im Leben. All dies trifft auch auf Fußball zu – oder auf die vielen anderen Dinge, in die sich Menschen stürzen. Der Fußballverein kann genauso die Kirche ersetzen wie das Fitness-Studio oder Taylor Swift.
Die Suche nach Sinn und Gemeinschaft hat sich immer stärker individualisiert. Das hat viel mit der sich veränderten Welt zu tun: Ein Stadion, das 200 Kilometer vom Wohnort entfernt ist, ist heutzutage schneller zu erreichen als früher. Durch das Internet finden sich leichter Gleichgesinnte, mit denen man sich austauschen kann. Informationen zu meinen Lieblingsthemen sind heute nur noch einen Klick entfernt.

Die großen Gleichmacher der Gesellschaft entfalten weniger Wirkmacht, wenn alternative Angebote derart leicht zu erreichen sind. So splittert sich die Gesellschaft in immer kleinere Gruppen auf: von den Crypto-Bros über die Fußball-Ultras bis hin zu den Swifties. Diesen Prozess kann man als „Individualisierung“ oder sogar „Hyperindividualisierung“ bezeichnen.
Gleichzeitig haben die Dinge, die man früher als Hobbies angetan hat, für viele Menschen enorm an Wert gewonnen. Wenn ich mein Leben um den Fußballverein organisiere, ist eine Niederlage selten eine normale Niederlage. Es ist immer auch eine Krise des Selbstwertgefühls. Ich kenne überraschend viele erwachsene Männer, die weder bei Beerdigungen noch bei der eigenen Hochzeit weinen – wohl aber, wenn ihr Lieblingsverein von der zweiten in die dritte Liga absteigt.
Gleichzeitig dienen heute Individuen als moralischer Kompass, die früher hierfür nicht zuständig waren. Kaum jemand hätte in den Sechzigern seine Wahlentscheidung von der Meinung der Beatles abhängig gemacht. Heute ist es ein Ereignis, wenn Taylor Swift ihren Followern mitteilt, wen sie aus welchem Grund wählt. Wir erwarten heute fast schon, dass unsere Lieblingsvereine und -prominenten über einen intakten moralischen Kompass verfügen. Diese Aufgabe war früher anderen Institutionen vorbehalten: Kirchen, Familien oder auch Gewerkschaften.
Auch politische Bewegungen füllen mittlerweile das Identitätsloch, das durch den Wegfall der einhergebrachten Institutionen entstand. Zahlreiche Menschen beziehen einen wesentlichen Teil ihrer Identität aus ihrer politischen Haltung. Wer die Grünen wählt oder die AfD, vertritt damit nicht nur konkrete politische Positionen, sondern gibt auch eine Haltung wieder. In gewissem Maße haben politische Haltungen eine stark identitätsstiftende Wirkung.
Es ist ein Grund, warum politische Auseinandersetzungen in der aktuellen Zeit wieder härter geführt werden: Viele Menschen erwarten von Prominenten und Politikern, dass diese sich klar von anderen politischen Bewegungen abgrenzen. Ich möchte mich da selbst nicht ausnehmen: Auch für mich ist die Zusammenarbeit mit der AfD ein Tabubruch. Das ist ganz logisch: Die AfD greift viele Punkte an, die direkt meiner persönlichen Identität widersprechen – sei es als freier Journalist oder als Vater eines Kinds mit Migrationshintergrund. Identität verwebt sich immer stärker mit der politischen Position der Menschen.
Die Folge: Viele Menschen fordern eine stärkere Kompromisslosigkeit ihrer Politiker. Wenn eine grüne Wirtschaftspolitik für mich nicht nur eine Ausprägung der Politik, sondern mein gesamtes Lebensziel darstellt, werde ich weniger geneigt sein, in diesem Bereich Kompromisse einzugehen. Für die extremsten Anhänger der Parteien hat sich eine „Alles oder gar nichts“-Mentalität breitgemacht.
Die großen Parteien CDU und SPD tun sich damit schwer, ihren Wählern diese Form von Identifikation anzubieten. Sie waren traditionell Sammelbecken unterschiedlicher Milieus. Doch diese Milieus haben sich längst aufgesplittet. Gerade für jüngere Menschen sind konkrete politische Positionen nicht mehr wahlentscheidend. Ihnen ist es egal, ob die Parteien die Mehrwertsteuer um wenige Prozentpunkte senkt. Es geht um etwas Anderes: Sie wollen gehört und in ihrer Identität bestätigt werden.

Das hat reale Folgen: Viele Menschen interessieren sich in der Politik nicht mehr für Ergebnisse, sondern für Performance. Trump ist hier das extremste, aber nicht das einzige Beispiel. Man könnte hier auch den aktuellen Erfolg der Linken reinzählen. Sie haben es nach Merz gescheitertem Gesetzesantrag zur Migration verstanden, ein klares „Wir“ gegen „Sie“ herzustellen. Es ist sehr einfach, angesichts dieser Position Partei zu beziehen. Sie hat damit vielen Menschen aus der Seele gesprochen.
Dieser zunehmende Fokus auf Abgrenzung steht in krassem Gegensatz zu einer Parteienlandschaft, die sich immer weiter auseinanderfächert. Bei den Bundestagswahlen der Siebziger haben SPD sowie die Union die Stimmen von 80% aller Wahlberechtigten auf sich gezogen. Vier von fünf erwachsenen Deutschen haben diese beiden Parteien gewählt! 2021 schaffte es keine einzige Partei, auch nur ein Fünftel aller wahlberechtigten Deutschen zu repräsentieren. (Die SPD mag 25% aller Stimmen erhalten haben, aber nur, wenn man die Nichtwähler herauslässt. Ihr Anteil an allen Wahlberechtigten lag bei knapp unter 20%.)
Um politische Ziele zu erreichen, bräuchte es mehr Zusammenarbeit. Die Menschen fordern zugleich von ihren Politikern, kompromissloser zu sein in der Sache. Machtpolitik ist wieder in. Dieser untrennbare Widerspruch lässt sich derzeit nur schwer auflösen. Er zerreißt Gesellschaften nicht nur innerlich, sondern auch auf internationaler Ebene: Die Probleme unserer Zeit lassen sich auf nationaler Ebene kaum lösen. Dennoch identifizieren sich immer mehr Menschen mit ihrer eigenen Nationalität und fordern, dass ihr Staat im Notfall Alleingänge wagt. Die USA, so der Maga-Gedanke, sei schließlich der stärkste Staat der Welt und brauche keine Partner. Das mag die Seele der Anhänger befriedigen; es wird aber kaum zu politisch guten Lösungen führen.
Aufmerksamen Lesern wird aufgefallen sein, dass ich geschrieben habe, politische Auseinandersetzungen werden „wieder“ härter. Tatsächlich halte ich die These von der immer stärkeren Polarisierung für falsch. Es gibt mittlerweile genug Studien, die nachweisen, dass in unserer Gesellschaft bei mehr Fragen Einigkeit herrscht, als wir denken. Zudem wird gerne vergessen, wie polarisiert die Gesellschaften der Vergangenheit waren. Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war geprägt von großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen polarisierter Gruppen. In Spanien mündeten diese sogar in einen Bürgerkrieg. Auch in den Sechziger und Siebziger Jahren war der Ton in der politischen Debatte wesentlich rauer als heute. Für viele CDU-Anhänger war Willy Brandt ein Vaterlandsverräter, während Alt-68er Politiker durch die Bank weg als Faschisten betitelten. Insofern erleben wir allerhöchstens eine Re-Polarisierung. Es ist eher ein anderer Punkt: Viele in der Gesellschaft sind empfindlicher geworden, was verbale Attacken durch den politischen Gegner angeht. Das ist logisch: Wenn es ein untrennbarer Teil meiner Identität darstellt, „Grün“ oder „Blau“ zu sein, wird ein Angriff des politischen Gegners auch als ein Angriff auf mich selbst gewertet.
Bislang mag sich dieser Text so lesen, als würde ich die Individualisierung beklagen. Früher war es so einfach, politische Mehrheiten zu finden! Die Menschen hatten noch Zusammenhalt! Man konnte sich auf gemeinsame Werte verständigen!
Ich möchte es aber keineswegs als negativen Prozess lesen. Dass die Gesellschaft früher in vielerlei Hinsicht gleichförmiger war, lag auch daran, dass sie auf Individualität wenig Rücksicht nahm. Wer homosexuell war, eine andere Hautfarbe hatte oder aus irgendeinem anderen Grund nicht in das Bild des Durchschnittsdeutschen passte, fand sich schnell am Rande der Gesellschaft wieder. Die Homogenität der Gesellschaft war häufig auch eine erzwungene Gleichmachung von Menschen, die nicht gleich waren.
In diesem Bereich hat sich viel verändert. Alternative Lebensentwürfe wurden zunächst in die Öffentlichkeit getragen, dann nach und nach legalisiert und institutionalisiert. Als ich geboren wurde, waren homosexuelle Handlungen noch ein Straftatbestand. Dass Frauen einem Beruf nachgehen, ist heute genauso normal wie das babylonische Sprachengewirr in der Berliner U-Bahn.
Die Individualisierung der Gesellschaft hatte einen Nebeneffekt: Unsere Gesellschaft ist deutlich toleranter geworden. Man vergisst dies aktuell gerne, gerade weil die Meinungen und Ängste von AfD- und Trump-Wählern die Schlagzeilen bestimmen. Doch noch vor zwanzig Jahren glaubte knapp die Hälfte der Amerikaner, Homosexualität sollte von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden. Heute sind es nicht einmal ein Viertel. Die Individualisierung hat dazu geführt, dass viele Menschen alternativen Lebensentwürfen toleranter gegenüberstehen. Wenn ich selbst meine Identität daraus ziehe, nicht so zu sein wie alle anderen, akzeptiere ich dies auch eher bei meinen Mitbürgern.
Damit will ich keineswegs behaupten, Rassismus oder Homophobie seien keine Probleme mehr (mehr dazu im Aufsatz zum Thema „Gedanken“). Gleichzeitig ist es aber so, dass die Demokratie in einer heterogenen Gesellschaft einen neuen Daseinsweck erhält: Die freie Lebensweise schützt Minderheiten. In einer Gesellschaft, in der sich immer mehr Menschen als Teil einer Minderheit identifizieren, ist dies ein äußerst wichtiges Projekt, auch um die Fliehkräfte einer Gesellschaft zu stoppen.
Die Heterogenität ist jedoch nicht jedem Deutschen lieb. Das wohl größte Versprechen der AfD lautet, die Gesellschaft zurück zur Homogenität zu führen. Die Vision, die Vertreter wie Björn Höcke vorbringen, ist das Versprechen eines völkisch-national-einheitlichen Deutschlands. Dieses Versprechen äußert die AfD selten explizit, schließlich ist es mit einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung kaum vereinbar. Es durchzieht aber implizit das gesamte Programm der Partei. Die AfD träumt von einer Volksgemeinschaft, die frei von Widersprüchen und in sich einig ist.
„Deutschland, aber normal“: In diesem Slogan steckt viel von dem, was die AfD für viele Menschen so attraktiv macht. Sie verspricht, keine Rücksicht zu nehmen auf gesellschaftliche Gruppen, die sich in der Individualisierung der Gesellschaft eingerichtet haben. Migranten sind ihr ebenso ein Dorn im Auge wie Homosexuelle, Feministinnen oder auch Ultras im Fußball.
Dieses Versprechen ist so mächtig, weil es kein rein politisches Versprechen ist. Es sind Versprechen, die die Identität ihrer Wähler in den Vordergrund rücken. Die AfD sagt ihnen: Ihr seid die Normalen! Wir gestalten die Gesellschaft so um, dass ihr wieder zum Idealbild des Deutschen avanciert! Dass Gesellschaften nicht auf derartige Weise funktionieren, interessiert weder die AfD noch deren Anhänger.
So sind rechte Bewegungen besonders dort stark, wo die Menschen den Verlust der homogenen Gesellschaft spüren. Im Osten wirkt der Verlust klassischer Institutionen noch einmal schwerer als im Westen. Während die Kirchen und andere traditionelle Strukturen im Westen zumindest in der Theorie noch bestehen, fiel mit dem Ende der DDR die sinn- und gemeinschaftsstiftenden Institutionen vollends weg. Neben den zahlreichen Menschen, die friedlich gegen den Staat demonstriert haben, gab es auch viele DDR-Bürger, die sich gut eingerichtet hatten zwischen SED, Jungpionieren und festem Arbeitsplatz. Für sie war die Nachwendezeit vor allem von Verlust geprägt: dem Verlust des bekannten Staates, der (erzwungenen) Normativität sowie der ökonomischen Sicherheit. Insofern ist es keine Überraschung, dass die ehemaligen Bürger der DDR besonders von der Erzählung der AfD angezogen werden.
Man darf aber nicht dem Fehler erliegen, die AfD als ostdeutsches Phänomen abzustempeln. Der Wunsch, zu einer homogenen Gesellschaft zurückzukehren, ist ein Phänomen, das sich in der gesamten westlichen Welt findet. Sie wollen Randgruppen die Rechte entziehen und Minderheiten abschieben, um den Traum einer homogenen Gesellschaft zu erreichen. Es ist ein gesellschaftlicher Autoritarismus: „Wir geben vor, wie die Gesellschaft zu sein hat.“ Dass es die homogenen Gesellschaften in der Vergangenheit allerhöchstens unter Zwang gab, interessiert diese Bürger nicht. Sie wären schließlich von einer Homogenisierung auf Zwang nicht betroffen.
Insofern ist der Vorwurf an die Linke, sie würde nur Identitätspolitik betreiben, ein irreführender. Ja, die Linke verirrt sich in verschachtelten Debatten, welche gesellschaftliche Gruppe zu welchen Themen Stellung beziehen darf. Das entlockt auch mir häufig ein Augenrollen. Die rechten Parteien stellen jedoch in einem viel größeren Maße die Identität ihrer Anhänger in den Vordergrund; mit dem Unterschied, dass ihre Anhängerschaft in der Regel die Mehrheit einer Gesellschaft stellt.
Möchte unsere heterogene Gesellschaft bestehen, muss sie diesen Anspruch der Rechten zurückweisen. Es ist daher wichtig, die Demokratie zu verteidigen. Trotz all ihrer Mäkel ist sie die einzige Staatsform, die Rechte für alle Bürger garantiert. Das ist wichtiger denn je in einer Zeit, in der die Menschen an immer ungewohnteren Orten ihr Seelenheil suchen.
Das Titelbild zeigt Donald Trump und ist lizenzfrei. Das Bild von der Amtseinführung von Papst Franziskus stammt von Andreas Wenzel, Lizenz: CC BY 2.0. Das Bild mit den Fußballfans stammt von Raimond Spekking, Lizenz: CC BY-SA 4.0. Das Bild von Friedrich Merz stammt von Steffen Prößdorf, Lizenz: CC BY-SA 4.0.