Real Madrid: Ein Triumph, wie ihn niemand nachahmen kann

Im März 2016 reiste ich nach Polen zu einem Fußballkongress. Mein Spielverlagerung-Kollege Rene Maric war verhindert, weshalb ich an seiner statt einen Vortrag über Pep Guardiolas Positionsspiel hielt. Die gesamte Konferenz war dem Thema „Juego de Posicion“ gewidmet. Ein holländischer Coach erläuterte die Ursprünge des Zonenspiels, ein polnischer Journalist fasste die Spielarten des Positionsspiels weltweit zusammen und ein spanischer Jugendtrainer zeigte ganz konkret, wie Trainer das Bewegungsspiel von Zehnern verbessern können.

Eine mittlere dreistellige Zahl an polnischen Fußballtrainern lauschte, wie wir die Vor- und Nachteile von Pep Guardiolas Positionsspiel diskutierten. Die Veranstalter haben das Thema nicht zufällig gewählt. Im Jahr zuvor haben sie sich von Mitarbeitern der RB-Salzburg-Akadamie erklären lassen, wie diese Pressing trainieren. Die Trainer, größtenteils Jugendtrainer im U12-Bereich, sollen von den Besten der Welt lernen.

Am gestrigen Samstag gewann Real Madrid die Champions League. Sie sind das erste Team der Champions-League-Geschichte, das zwei Titel hintereinander gewann, und auch das erste Team, das drei Titel in vier Jahren holte. Es ist keine Übertreibung zu sagen: Real Madrid hat den Fußball in den vergangenen Jahren geprägt. Und doch werden sich die polnischen Jugendtrainer im kommenden Jahr nicht mit der Spielphilosophie von Real Madrid befassen.

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Grafitti von Johan Cruyf, dem Kopf der Ajax-Elf der frühen 70er. Foto von Max Pixel, Lizenz: CC 0 1.0

Fast alle großen Teams der Fußballgeschichte hatten eine besondere taktische Eigenschaft, einen bestimmten Stil, der sie von anderen Teams abhob. Die ungarische Wundermannschaft der 50er-Jahre spielte mit falscher Neun und einem furiosen Ein-Kontakt-Spiel. Ajax Amsterdam erfand in den 70ern den „Voetbal total“, Bayern München paarte diesen wenige Jahre später mit Kampfstärke und brutaler Effizienz. Der AC Milan erfand um die 90er-Jahre herum die moderne Pressingorganisation, der FC Barcelona hatte unter Guardiola sein Zonenspiel. Selbst Reals „Galácticos“, die um die Jahrtausendwende ebenfalls drei Champions-League-Titel gewannen, hatte mit ihrer Rautenformation eine zu jener Zeit taktisch besondere Formation, durch die alle Spieler erst so richtig ihr Potential entfalten konnten.

Kritiker der reinen Taktiklehre können (teils sogar zurecht) vorwerfen, dass hier eine Ex-Post-Rationalisierung vorliegt. Einfacher gesagt: Wer irgendwas taktisch Besonderes bei einem Champions-League-Sieger finden will, wird schon irgendwas finden, egal wie bedeutend oder unbedeutend dieses Merkmal tatsächlich für den Sieg war. Das mag manchmal tatsächlich zutreffen.

Nur: Bei Real Madrids aktueller Generation lässt sich nichts finden, egal wie sehr man sich anstrengt. Das System: 4-2-3-1. Das Pressing: mal hü, mal hott, nie besonders einfallsreich. Die Spielweise: mal betont langsam, mal schnell konternd. Es gibt keine Philosophie, keine fest vorgegebenen Angriffsrouten, kein Klopp’sches Gegenpressing oder Guardiola’sches Positionsspiel, von dem man sagen würde: Das ist Reals Stil, das ist ihre Fußballphilosophie.

„Der Star ist die Mannschaft“, lautete der (fast schon karikaturesk deutsche) Leitspruch von Berti Vogts. Selten in der Fußballgeschichte traf dieser Spruch so sehr auf eine Mannschaft zu wie auf Real Madrid, und doch steht er unter völlig anderen Vorzeichen, als Vogts ihn verstanden hat. Real Madrid Mitte der 2010er, das ist eine Ansammlung herausragender Fußballer.

Knapp 420 Millionen Euro haben die vierzehn Madrid-Spieler, die gegen Juventus spielten, laut Transfermarkt.de an Ablösesumme gekostet. Beeindruckend ist angesichts dieser irrwitzigen Transfersummen, dass Real Madrid nicht nur aus Technikern und Torjägern besteht. Diese versprechen die besten Werbeerlöse und den höchsten Absatz an Merchandise-Produkten, kosten dementsprechend aber auch mehr Geld. Real Madrid hat aber mit Luka Modric und Toni Kroos zwei der besten Spielgestalter der Welt, mit Raphael Varane und Sergio Ramos zwei Weltklasse-Innenverteidiger und mit Marcelo und Daniel Carvajal zwei überragende Außenverteidiger. Sie sind auf jeder Position – außer vielleicht der des Torhüters – Weltklasse besetzt, und das in allen fußballrelevanten Kategorien, von der Technik über die Spielübersicht bis hin zur Kampf- und Laufstärke.

Kein Spieler bei Real Madrid ist wirklich ersetzbar, was nicht an ihrer taktischen Rolle liegt, sondern dass praktisch niemand auf der Welt so gut spielt wie sie. Es gibt kaum Spieler mit der Übersicht eines Kroos‘, keinen Linksverteidiger mit der brachialen Leichtigkeit eines Marcelos, niemanden, der an Cristiano Ronaldos Explosivität heranreicht. Selbst Casemiro, der Wachhund, der eigentlich nur die Vorstöße von Kroos und Modric absichern soll, hat eine derart auf ihn persönlich zugeschnittene Rolle, dass man nicht einfach irgendjemanden anders seine Rolle spielen lassen kann. Seine Aggressivität und Laufstärke gepaart mit seinem sauberen Ablagenspiel und seinem Willen, sich vollends den Spielern um sich herum zu unterwerfen, gibt es auf dem Niveau kaum ein zweites Mal. Casemiro steht sinnbildlich für das ganze Team, das um ein taktisches Konstrukt herum entwickelt wurde, dessen einziges Ziel es ist, eben alle diese Spieler auf den Platz zu bringen.

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Cristiano Ronaldo mit dem Ballon d'Or von Anish Morarji, Lizenz: CC BY 2.0

Taktik ist oft der Versuch, aus einem Team mehr entstehen zu lassen als nur die Summe der Einzelspieler. Bei Real Madrid ist in den vergangenen Jahren sehr selten mehr entstanden als die Summe der Einzelteile. Gerade in dieser Saison waren die Einzelteile schlicht so überwältigend gut, dass nur ganz wenige Gegner sie überrumpeln konnten. Hinzu kommt eine Art „positive Arroganz“, die Real Madrid ausstrahlt. Die Spieler sind nicht nur überragend, sie wissen auch, dass sie überragend sind. Reals imposanteste Eigenart diese Saison war es, dass die Spieler selbst bei Rückständen in der neunzigsten Minute ausstrahlten: „Wir sind Real Madrid. Wir drehen das noch.“ 60 Pflichtspiele bestritt Real in diesem Jahr. In 15 Spielen, also einem Viertel aller Duelle, sicherte Real sich den Sieg oder ein Unenteschieden erst in der Schlussviertelstunde, in sechs Fällen sogar erst nach der 90. Minute. Zusätzlich gewannen sie drei wichtige Spiele erst in der Verlängerung: den europäischen Supercup, die Fifa Klub-WM sowie das Champions-League-Viertelfinale gegen die Bayern. Unter Taktik-Nerds wird Zinedine Zidane dies oft negativ ausgelegt: Seine Mannschaft spiele langweilig, er verlasse sich nur darauf, dass die Einzelspieler irgendwie in der 90. Minute durch eine geniale Aktion ein Tor erzielen. Er sei gar kein großer Trainer, sondern nur jemand, der zur rechten Zeit am rechten Ort war und den besten Kader zur Verfügung hat. Ein Teil von mir stimmt dem zu.

Der andere Teil sagt aber: Zidane wählt den richtigen Weg. Kaum etwas fällt vielen Trainern schwerer, als einfach loszulassen. Besonders Trainer der Generation Laptop, die sich ohne eigene Erfahrung als Profispieler in die Trainerelite hochgearbeitet haben, neigen dazu, jeden noch so kleinen Aspekt des Fußballspiels kontrollieren zu wollen. Die Taktik. Die Laufwege. Die Ernährung. Ein Trainer, der in den höchsten drei deutschen Spielklassen gearbeitet hat, nimmt bei seiner Aufstellung sogar die Augendominanz seiner Spieler als Kriterium. Nicht immer tut diese Art der Kontrolle gut. Wer jedes kleinste Detail beachtet, verliert schnell den Blick für das große Ganze. Ganz zu schweigen davon, dass sich nur die wenigsten Fußballer, selbst auf dem allerhöchsten Niveau, mit taktischen Fragen beschäftigen wollen, geschweige denn mit der Frage, welches Auge ihr dominantes ist. Sie wollen einfach Fußball spielen.

Es dürfte kein Zufall sein, dass die Defensivtaktiker Jose Mourinho und Rafael Benitez bei Real keinen Erfolg hatten, die „Man Manager“ Carlo Ancelotti und Zinedine Zidane hingegen schon. Gerade um Mourinhos Kontrollwahn in Madrid ranken sich viele Mythen und Geschichten, von denen nicht alle wahr sein dürften, die aber ein Bild erzählen: Der Trainer wollte, dass seine Spieler eine bestimmte Art von Fußball spielen. Die Fußballer wollten aber einfach das tun, was sie können. Das durften sie nur in Teilen unter Ancelotti und jetzt eben unter Zidane.

Anders gesagt: Wer mit Modric und Kroos zwei Spieler hat, die das Spiel lesen können, wer mit Marcelo und Carvajal zwei Außenverteidiger hat, die aus dem Nichts Dynamik erzeugen können, wer mit Cristiano Ronaldo und Karim Benzema zwei Stürmer hat, die in den entscheidenden Spielen treffen, wie sie wollen – wer braucht da noch einen taktischen Plan? Der Trainer muss vielleicht diesen Spielern einfach nur den Raum geben, sich zu entfalten, und die Möglichkeiten, im Training an ihrer Fitness und Technik weiter feilen zu können. Der Rest ergibt sich.

Und das ist am Ende auch die Limitierung des Madrider Ansatzes: Er geht so lange gut, wie die Spieler ihre Leistungen abrufen. Wenn sich Leistungsträger verletzen, älter werden, wenn man einen falschen 100-Millionen-Transfer zu viel abschließt, könnte das ganze Gebilde zusammenbrechen. „Heldenfußball“ nannte Volker Finke diese Art von Fußball. Dieses Wort trifft Reals Wesenskern. Vor allem aber taugt Real nicht als Vorbild für andere Teams. Es ist das Klischee, nach der man für Guardiolas Art von Fußball die ganz großen Spieler benötigt. Die Wahrheit ist: Zinedine Zidanes Art von Fußball funktioniert nur mit den ganz, ganz großen Spielern. Wie soll ein polnischer U12-Trainer seinen Spielern irgendetwas von dem mitgeben, was Zidane spielen lässt? Reals Erfolge mögen verdient sein. Stilbildend werden sie nicht sein.

Das Titelbild mit Zinedine Zidane stammt von Patrick Gaudin, Lizenz: CC BY 2.0

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